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Die Macht der Geschichten. Und warum Storytelling alleine nicht reicht.

Was macht ein Unternehmen aus? Es sind die Geschichten, die die Menschen in Ihm und über es erzählen. Identität, Sinn und werte einer Organisation – all das ist in Narrativen verankert und wird über diese vermittelt. Wer ein Unternehmen verändern will, muss deshalb bei den Geschichten ansetzen. Und das erfordert mehr als Storytelling.

Storytelling boomt seit Jahren – so sehr, dass manche den Begriff schon nicht mehr hören
können.

Der Überdruss rührt auch daher, dass Storytelling häufig fälschlich als eine Methode verstanden wird, mit der ein Unternehmen der Welt und den eigenen Mitarbeitenden in eingängigen Geschichten verpackt erzählt, wie toll es ist. Diese Art von Storytelling fußt auf der Idee, dass man nur ”die richtige Geschichte“ erzählen muss – und schon werden Mitarbeitende oder Kunden auf die gewünschte Weise reagieren, ein Produkt kaufen oder motiviert arbeiten.

Richtig ist, dass Menschen stark auf Geschichten anspringen. Das liegt an der Art, wie unser Gedächtnis funktioniert: Wir haben nicht nur ein Fakten-Gedächtnis, in dem für sich allein stehende Zahlen, Daten, Informationen abgespeichert werden, Wir haben auch ein episodisches Gedächtnis, das Zusammenhänge, Erinnerungen und eben Episoden abspeichert. Dieses Gedächtnis arbeitet unsere Erlebnisse ständig in Geschichten um.

Die gute Nachricht für alle, die sich mit Kommunikation beschäftigen, ist die, dass dieses Prinzip auch umgekehrt funktioniert: Geschichten, die wir hören, lesen oder im Kino sehen, werden vom Gehirn ähnlich verarbeitet wie echte eigene Erlebnisse, und sie werden im episodischen Gedächtnis gespeichert. Wenn wir also Geschichten erzählen, liefern wir unseren Rezipienten etwas Ähnliches wie Erlebnisse. Und das führt in der Regel zu einer hohen emotionalen Beteiligung, wodurch sich meist auch die Merkfähigkeit erhöht.

Doch dass der Mensch ein „Storytelling Animal“ ist, wie es der US-amerikanische Autor Jonathan Gottschall ausdrückt, bedeutet noch viel mehr. Ein großer Teil der psychologischen Identitätsforschung ist sich heute zum Beispiel darin einig, dass unsere Identität wesentlich durch die Geschichten aufgebaut wird, die wir über uns im Kopf haben. Auch unser Verständnis von der Welt beruht darauf, dass wir mithilfe von Geschichten Sinn erzeugen.

Oft stellen wir zum Beispiel automatisch in erzählender – in narrativer – Form Verbindungen zwischen einzelnen unzusammenhängenden Erlebnissen oder Wahrnehmungen her. Zeigt man uns das Foto einer Person mit traurigem Gesichtsausdruck und dann ein Bild derselben Person, diesmal fröhlich lächelnd, können wir fast nicht anders, als darüber zu rätseln, was geschehen sein mag. Wir konstruieren eine Geschichte – also eine Struktur, in der es einen Ausgangszustand gibt, ein Ereignis, das eine Entwicklung bewirkt, und einen Endzustand: Marie ist einsam und unglücklich. Marie lernt Hans kennen und lieben, und er sie. Marie ist glücklich.

Da unser Sinnesapparat sonst überfordert wäre, ziehen wir aus dem Sturm der Eindrücke, die auf uns einprasseln, ständig einzelne, für uns bedeutsame Ereignisse heraus und verbinden sie zu einer kohärenten Wahrnehmung. Wir denken also häufig in Geschichten. In narrativen Strukturen sucht und (er)findet unser Gehirn Sinn in der Welt. Auch unsere Ideen der Zukunft können wir nur so denken. Ebenso Veränderung.

Soziale Systeme sind narrative Systeme.
Weil erzählende Strukturen so fundamental im menschlichen Denken sind, spielen sie auch in sozialen Systemen eine wichtige Rolle. Ein Mitarbeiter in einem großen Unternehmen sagt zum Beispiel: „Wenn man bei uns etwas Konkretes wissen will, wird man erst mal von Pontius zu Pilatus geschickt, bevor man endlich an die richtige Stelle kommt!“ Hinter diesem Stoßseufzer steckt noch keine konkrete, einzelne Geschichte, aber ein immer wiederkehrender Ablauf, von dem in einer erzählenden – einer narrativen -Struktur berichtet wird. Der Stoßseufzer ist also ein (in diesem Fall explizit geäußertes) Narrativ. Eine Kernerzählung, die hilft, die Realität zu verstehen Narrative bilden die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab. Sie sind vielmehr Konstruktionen, die – ähnlich wie Fotografien – allein durch die Wahl des Ausschnitts ein bestimmtes, oft auch vereinfachtes Bild der Realität malen.

In jedem Unternehmen existieren zahlreiche Narrative, explizite wie auch implizite. Ein einfaches Beispiel für ein implizit einer Handlung zugrunde liegendes Narrativ ist etwa der Brauch, einander die rechte Hand zu schütteln. Wer einem vor Jahrhunderten die Schwerthand hinstreckte, konnte nicht zugleich sein Schwert ziehen. Das implizite Narrativ zum Händeschütteln lautet also: Man begegnet einander friedfertig beziehungsweise freundlich.

Geschichten sind oft Konkretisierungen eines Narrativs. Werden allerdings viele ähnliche Geschichten in einem Unternehmen erzählt, kann das auch, umgekehrt, zur Folge haben, dass ein übergeordnetes Narrativ – ein „Meta-Narrativ“ – entsteht, das darstellt, „wie es bei uns läuft“.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert J. Shiller spricht davon, dass Narrative „ansteckend“ seien und sich verbreiten wie Viren in einer Epidemie. Für Shiller sind Narrative daher, wenn sie viral gehen, wesentliche Treiber wirtschaftlicher Entwicklungen. Auch dann, wenn sie nur ein verkürztes oder sogar falsches Bild der Wirklichkeit zeichnen. Manche Narrative in Wirtschaft und Gesellschaft halten sich sogar über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg und tauchen in mutierter Form immer wieder auf, etwa das Narrativ „Mit dem Aufkommen neuer arbeitssparender Maschinen werden viele Jobs wegfallen“ oder das Narrativ von „Bösen Unternehmen“.

Geschichten formen Organisationen.
Innerhalb von Unternehmen haben Narrative und Geschichten nicht nur starke Wirkungen, sie erfüllen auch wichtige Funktionen. Sie wirken zum Beispiel – ähnlich wie in Familien („How I met your mother“) identitätsstiftend. Das gilt nicht nur für die Geschichten, die die Organisation über sich selbst erzählt oder die ihre Mitarbeitenden erzählen. Identität entsteht vielmehr am Schnittpunkt zwischen Selbsterzählungen, Fremderzählungen über das Unternehmen und Erzählungen, die in der Umwelt des Unternehmens kursieren.

Viele Unternehmen glauben zwar, die Geschichten zu kennen, die über sie im Umlauf sind. Tatsächlich sind ihnen jedoch nur die Meinungen, die zum Beispiel Kundinnen und Kunden bei einer Befragung äußern, bekannt, nicht aber die in Geschichten geronnenen Erlebnisse der Kunden und Kundinnen mit dem Unternehmen. Ähnliches gilt für Mitarbeiterbefragungen. Diese kratzen ebenfalls lediglich an der Oberfläche. Sie können die verborgenen Seiten der Kultur nicht greifen – die in Narrativen und Geschichten allerdings aufscheinen.

Sinn und Sinnlosigkeit sind in Narrationen gebunden.
In Narrationen kristallisiert sich auch Sinn. Dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari zufolge können große Gemeinschaften mit über 150 Mitgliedern überhaupt nur durch gemeinsame sinnstiftende Geschichten organisiert werden. Ob diese nun um den Stolz auf die eigene Historie kreisen, um den gesellschaftlichen Beitrag, den das Unternehmen leistet, oder die Art, wie in dem Unternehmen zusamrnengearbeitet wird („Bei uns ist es wirklich cool, völlig ohne Hierarchien und Zwänge“).

Das zentrale Sinn-Narrativ eines Unternehmens kann allerdings auch ein Sinnlosigkeits-Narrativ sein: ,,Wir bauen ziemlich schlechte Autos, an denen die Kunden wenig Freude haben. Das liegt daran, dass bei uns alles totgespart wurde.“ Man kann sich vorstellen, wie sich so ein Narrativ auf Engagement und Motivation der Mitarbeitenden auswirkt. Häufig interferieren in Organisationen aber auch mehrere positive wie negative sinntragende Geschichten. So können in einem Traditionsunternehmen einerseits Narrative über die stolze Historie des Unternehmens kursieren, gleichzeitig aber auch Geschichten darüber, wie bürokratisch und ,,verknöchert“ das Unternehmen geworden ist.

Werte erwachen durch Geschichten zum Leben
Auch das, was ein Wert für einen Menschen – oder ein soziales System – bedeutet, ergibt sich erst daraus, welche Arten von Handlungen diesem Wert zugeordnet werden. Wertelisten, die Unternehmen so gern aufstellen, sind an sich nur leblose Konstrukte. Wenn man Mitarbeitende beispielsweise fragt. was sich hinter dem Wert Kundenorientierung verbirgt, erntet man oft Ratlosigkeit, manchmal sogar widersprüchliche Erklärungen. Für den einen besteht der Wert darin, dass man dem Kunden alles sofort gibt, was dieser fordert. Bei der Zweiten darin, Kundenwünsche besser zu verstehen als der Kunde selbst. Und der Dritte versteht darunter womöglich nur, Kunden nicht übers Ohr zu hauen.

Von Werten zu sprechen, macht daher nur dann Sinn, wenn man die damit verknüpften Handlungen mitdenkt – was wiederum in erzählender Form geschieht. Man könnte auch sagen: Die Geschichte gehört zum Konstruktionsprinzip von Werten. Implizites Wissen wird nur narrativ greifbar

Generell lässt sich sagen: Das Wissen einer Organisation ist – auch über Identität, Sinn und Werte hinaus – zum großen Teil narrativ kodiert. Zumindest das implizite Wissen, das von den Erfahrungen einer Person abhängt und in ihrem Handeln liegt. Oft ist dieses Wissen auch für die Person selbst eher diffus vorhanden und wird erst durch das genaue Erzählen bewusst („Wie ich die Schweißanlage X wieder in Schuss gebracht habe“).

Als implizites Wissen liegen auch wichtige kulturelle Codes, Normen und Regeln einer Organisation vor. Oft existiert zum Beispiel ein implizites Wissen darüber, „wie Karriere bei uns geht“ nur bei den Männern. Weil diese dieses Wissen, dass über die entsprechenden Geschichten („ Wie es bei Thomas lief‘) in ihren Netzwerken weitergeben. Frauen sind kein Teil dieser Netzwerke und bekommen daher auch nichts von diesen Geschichten mit. Was sich de facto für sie als Karrierehindernis erweist.

Vor dem Storytelling kommt das Storylistening
Das große Problem am einseitig von oben inszenierten Storytelling ist die Gefahr dissonanter Kommunikation. Natürlich gibt es auch in einer „idealen“ Organisation eine KIuft zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation. Wenn Unternehmensleitung und Marketing aber völlig andere Geschichten erzählen, als die, die sich aus dem konkreten Erleben der Stakeholder speisen, wird es problematisch. Dann sinken Glaubwürdigkeit und Reputation, Motivation und Leistung, und es wird schwer, Mitarbeitende für Veränderung zu gewinnen.

Spätestens hier wird deutlich, warum Storytelling nur ein Element narrativer Arbeit in Unternehmen sein sollte. Mindestens genauso wichtig ist Storylistening: das Hören bzw. Wahrnehmen der Geschichten, die im Unternehmen und außerhalb davon kursieren und in denen sich ausdrückt, wie sinnvoll Mitarbeitende ihre Arbeit und das Unternehmen finden. Welche Werte sie leben. Wie sie die Identität des Unternehmens wahrnehmen. Und welches Erfahrungswissen sie teilen.

(Ende Teil 1)

 
 

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